1. Philharmonisches Kammerkonzert 200. Spielzeit

am Montag, 7.Okt. 2024 im Kleinen Saal der Glocke

Guillaume Lekeu? Nie gehört! So dürfte es wohl nahezu allen Zuhörern des 2.Philharmonischen Kammerkonzerts gegangen sein. Doch die ungemein aufrüttelnde Aufführung von Lekeus Klavierquartett hat zweifellos tiefen Eindruck hinterlassen. Dabei ist es von Vorteil, die autobiografischen Hintergründe zur Entstehung dieses kammermusikalischen Meisterwerks zu kennen. Wie es heißt, hatte sich der aufstrebende belgische César-Franck-Meisterschüler Lekeu durch ein kontaminiertes Sorbet eine Typhusinfektion zugezogen, die innerhalb weniger Wochen und nur einen Tag nach seinem 24. Geburtstag tödlich endete. Sein Klavierquartett konnte er leider nicht mehr vollenden. Aber in den beiden vorhandenen, vom Komponisten Vincent d’Indy seinerzeit vervollständigten Sätzen werden die Leiden angesichts dieser fatalen Erkrankung wie auch das Wissen um die Unausweichlichkeit eines viel zu frühen Todes dieses musikalischen Genies in allen Schattierungen nachvollziehbar widergespiegelt.
Mit Nils Mönkemeyer, Bratschist und derzeitiger Artist in Residence der Philharmonischen Gesellschaft, dazu die Violinistin Carolin Widmann, Cellist Julian Steckel und Pianist William Youn stand ein exzellentes Ensemble zur Verfügung, das dieses packende Werk in seiner ganzen Ausprägung eindrucksvoll vermittelte.
„Dans un emportement douloureux“ lautet die Bezeichnung des 1.Satzes, auf deutsch: „In schmerzlicher Hemmungslosigkeit“. Mit ungebärdig harten, wie unerbittlich anmutenden Akkorden starteten Streicher und Klavier. Wechselten zu einem eindringlichen Lamentoso, dabei stets hin und hergerissen zwischen tiefer Verzweiflung und wild kämpferischem Aufbegehren, alles ausgeführt ohne jedwede interpretatorische Glättung. Mittendrin dann kurze Sehnsuchtssequenzen, aus denen einzelne Instrumentenpartien sanft herausleuchteten, gefolgt von dramatischen Steigerungen, einem gewaltigen, in seiner Schroffheit und Rigorosität alles überrollenden Klangrausch. Kurz: Ein Vortrag von höchst packender Intensität und größtmöglicher Spannungsdichte.
Der Kontrast zum 2.Satz „Lent et passionné“, also „Langsam und leidenschaftlich“, hätte indes kaum heftiger sein können. Düster, geheimnisvoll begann die Sologeige, eröffnete gemeinsam mit den anderen Stimmen zarte, wie aus der Ferne herüberleuchtende Harmoniesphären. Die Melange überbordender Gemütswallungen ging, ohne auch nur den geringsten Anschein oberflächlicher Rührseligkeit oder sentimentalen Schwulstes zu erwecken, berührend tief unter die Haut. Die schlichten, sehr intim anmutenden Harmonien wurden von aufbegehrenden Klängen nur kurzzeitig in den Hintergrund gedrängt, bis alles in hauchzartem Pianissimo im Nichts verhauchte. Für einen Moment herrschte ergriffene Stille im Saal, dann löste sich die Spannung in begeistertem  Beifall.
Eingeleitet worden war der Konzertabend mit Franz Schuberts „Adagio e Rondo Concertante F-Dur“ für Klavierquartett. Von Beginn an imponierten die durchweg homogenen Ausführungen des Ensembles. Spritzig und lebhaft, in einer gelungenen Mischung aus klangvoller Eleganz und Eingängigkeit, geriet dabei das forsch angegangene Rondo, bei dem vor allem der Pianist mit sicherem Spiel seiner endlosen schnellen Passagen brillierte.
Nach der Pause, in der die fesselnde Darbietung des Lekeu-Werkes noch so manche Gemüter bewegt hatte, stand mit dem Klavierquartett g-Moll von Johannes Brahms ein weiteres grandioses Werk auf dem Programm. Als 28-Jähriger hat er es komponiert. Und es scheint, als wolle der Komponist darin alle nur denkbaren harmonischen Raffinessen ausloten. Wieder gingen die vier Interpreten mit Emphase, Enthusiasmus und überbordender musikantischer Energie ans Werk. Starke Forte-Piano-Entwicklungen und markante Akzentuierungen, dazu orchestral dicht geschichtete Klangballungen sorgten für intensive Höreindrücke beim Kopfsatz. Springlebendig und mit einem aus tackernden Tonrepetitionen geknüpften Geflecht versehen, dazu von kurzen Dialogen zwischen Streichern und Klavier aufgelockert, folgte das heiter-gefällige, scherzo-artige Intermezzo. Ein breiter, klangvoller Harmoniestrom, teils von hart pochendem Pulsieren unterlegt, markierte den Andante-Satz.
Schließlich, als Krönung des Abends, der Rondo-Schlusssatz „alla zingarese“, wörtlich (wenngleich politisch inkorrekt): „im Stil der Zigeunermusik“. Da durfte, da musste das resolut aufspielende noch einmal absolut in die Vollen gehen. Tat es auch. Und zwar derart prestissimo und mitreißend, dass Bögen und Finger nur so wirbelten, sich die furios angegangenen Motive beinahe zu überschlagen schienen, aber dennoch durchweg pointiert und präzise ausgeführt wurden. Da kamen überschäumende Lebenslust und Volksfeststimmung, aber auch schmachtende Gefühle in allen ihren Farben zum Ausdruck, da ging es mit beinahe schon archaischer Wucht höchst effektvoll und feurig zur Sache, da waren selbst gesetztere Zuhörer schier aus dem Häuschen. Was sich in tosendem Beifall und – in Kammerkonzerten wohl eher selten zu erleben – heftigem Fußgetrampel ausdrückte.
Mit diesem rundum begeisternden Konzert hat Mönkemeyer eine beachtliche Visitenkarte als „Residence-Artist“ der 200. Spielzeit der Philharmonischen Gesellschaft abgeliefert, die hohe Erwartungen für weitere Konzerte weckt. Man darf gespannt sein, zumal Mönkemeyer, der sich längst auch als herausragender Solist profiliert hat, diesmal ausschließlich als Teamplayer in einem perfekt harmonierenden Ensemble zu erleben war. Das Quartett ließ als Zugabe – und vielleicht auch zur Abkühlung der ‚zingaresisch‘ aufgeputschten Gemüter – noch das wunderschöne „Andante cantabile“ aus Robert Schumanns einzigem Klavierquartett op.47 folgen.

von Gerd Klingeberg