Kritik: 6. Philharmonisches Kammerkonzert
6. Philharmonisches Kammerkonzert am 12.02.2023 (von Gerd Klingeberg)
Wie gut, so möchte man meinen, dass ein gewisser Graf Hermann Carl von Keyserling dereinst unter Schlaflosigkeit litt. Sonst hätte die Welt vermutlich auf eine der interessantesten Kompositionen Johann Sebastian Bachs verzichten müssen. Der Graf hatte Bach nämlich gebeten, einige Klavierstücke ‘sanften und munteren Charakters‘ für den gräflichen Hauspianisten Johann Theophilus Goldberg zu erstellen, um während der schlaflosen Nächte durch das Klavierspiel aufgeheitert zu werden. Das Ergebnis waren die 1741 entstandenen, satz- und spieltechnisch hochkarätigen Goldberg-Variationen BWV 988. Dreißig Stück an der Zahl sind es. Und jede von ihnen ein ureigenes Charakterstück, ein kompositorisches Kleinod.
Beim 6. Philharmonischen Kammerkonzert wurde das ursprünglich für „Clavicimbal mit zwei Manualen“ vorgesehene Werk von drei Ausnahmekünstlern dargeboten: der auf der Krim geborenen deutschen Saxofonistin Asya Fateyeva, dem dänischen Akkordeonisten Andreas Borregaard und dem Cellisten und derzeitigen Artist in Residence Eckart Runge. Eine höchst ungewöhnliche Instrumentalbesetzung, die man eigentlich kaum bei klassischer Musik erwartet. Kein Wunder; denn Akkordeon und Saxofon wurden erst im 19. Jahrhundert erfunden, waren also zu Bachs Zeiten noch gar nicht existent. Dabei schienen sich deren unterschiedliche Klangfarben indes erstaunlich gut zu ergänzen. Die Aufteilung der Original-Partitur auf die drei Stimmen bewirkte nicht nur eine ausgeprägte Transparenz. Sie ließ auch manche kompositorische Finesse, manche komplexe Verzierung, manche metrische Feinheit erkennen, die bei der Klavierausführung nicht selten im Gesamtklang untergeht. Und sie brachte dabei alle die unterschiedlichen Stimmungen jeder einzelnen Variation – swingend Heiteres, einen mitunter unbeschwerten Optimismus, friedliche Gelassenheit, aber auch grüblerisch trübsinnige, fast schon elegische Gedanken – in einer Intensität zum Ausdruck, die auf einem einzelnen Tasteninstrument so niemals erreichbar ist. Mochte die Besetzung anfangs durchaus etwas gewöhnungsbedürftig anmuten, so hatte man spätestens beim klangschwelgenden Abgesang, der Wiederholung des zugrunde gelegten Sarabanden-Eingangsthemas, den Eindruck, das grandiose Werk sei eigens für genau diese Trio-Besetzung geschrieben worden. Hätte man Bach gefragt, ob damit dennoch die Intention seines Werkes gewahrt sei, so hätte er zweifellos keine Einwände gehabt.
Die zweite Konzerthälfte war vor allem dem großen argentinischen Bandeonisten und Tango-Komponisten Astor Piazzolla gewidmet. Quasi als „Bridge“ vom Barock zu dieser speziellen Musik des 20. Jahrhundert bewies Borregaard seine stupende Fingerfertigkeit am Konzertakkordeon mit zwei in ihrer Gegensätzlichkeit brillant ausgeführten Cembalo-Sonaten von Domenico Scarlatti.
Bei den nachfolgenden „7 Canciones populares españolas“ von Manuel de Falla war es Fateyeva, die ihr Saxofon stellvertretend für die eigentlich vorgesehene Gesangsstimme in expressiver Klangdichte mit sonorem Timbre und nuanciert kontrolliertem Ansatz wunderschön zum Singen brachte.
Schließlich Piazzollas 1982 entstandener „Le Grand Tango“, ein typischer Tango nuevo, der nicht im traditionellen Stil tanzbar angelegt ist, sondern sich klassischer polyfoner und kontrapunktischer Elemente bedient. Begleitet vom Akkordeon, zeigte sich Runge als virtuos und mit überbordendem Impetus aufspielender Cellist mit authentischer Interpretation. Mal schmachtend schmerzlich, mal robust zupackend, mal weich fließend oder scharfkantig schroff, bisweilen garniert mit Glissando- und Flageoletttönen: Runge nutzte nahezu jede mögliche spieltechnische Variante, um die unterschwellige erotische Schwüle und all die heftig kontrastierenden Gemütszustände, die den Tango ausmachen, exzellent und mit Herzblut zu Gehör zu bringen.
Schließlich, wieder in Trio-Formation, als weiteres Beispiel für die vielfältigen Facetten des argentinischen Tangos, eine Piazzolla-Hommage an Bach und Vivaldi: aus den „Las Cuatro Estaciones Porteñas“ („Die Vier Jahreszeiten von Buenos Aires“) den rhythmisch besonders markanten Frühling „Primavera Porteña“. Mit innigen Sehnsuchtsträumen und einem mitreißenden Fugenthema, das in satter Farbigkeit strahlende frühlingssonnige Lichtfülle und das drängende Aufbrechen unzähliger Knospen ungemein bildhaft nachvollzieht.
Nach tosendem Beifall „verriet“ Runge, dass es sich bei dem Ensemble eigentlich nicht um ein Trio, sondern um ein Quartett handele, da das Akkordeon ja zwei Stimmen übernehme. Quasi zum Beweis spielten die derart zum Quartett erklärten Musiker den gleichermaßen melodischen wie wirbelnden Finalsatz aus Antonín Dvořáks Streichquartett F-Dur op. 96 „Amerikanisches Quartett“ als passende Zugabe. Ein schier unübertrefflicher Abschluss eines durchgängig fesselnden Kammerkonzerts.