1. Philharmonisches Kammerkonzert mit Benjamin Marquis Gilmore (Violine), Leonard Elschenbroich (Violoncello), Matthew Hunt (Klarinette) und Alexei Grynyuk (Klavier) am 11.4.2025 im Kleinen Saal der Glocke

von Gerd Klingeberg

Zwei außerordentliche Musikwerke stehen an diesem Abend auf dem Programm; es sind, wie Cellist Leonard Elschenbroich vorab betont, „monolithische Mahnmale“ gegen den Faschismus, gegen Krieg, Diktatur und den Holocaust. Und damit aktueller denn je. Wohl auch deshalb widmet Barbara Grobien als Vorsitzende der Philharmonischen Gesellschaft diesen Konzertabend der jüngst verstorbenen Komponistin Sofia Goubaidulina, deren Werke mehrfach in den Philharmonischen Kammerkonzerten zu hören waren.
Diese wichtigen Vorabinformationen lassen erahnen, dass es nicht um sanfte Unterhaltung gehen wird, sondern um wahrhaft Herausforderndes, etwas, mit dem man sich wohl zwangsläufig auseinandersetzen muss – sofern man das, was unter Ausnahmebedingungen dereinst komponiert wurde und genau diesen Stempel in sich trägt, auch an sich herankommen lassen mag.
Als sofort irritierend erweist sich bereits die lange Eingangsphase des im Kriegsjahr 1944 entstandenen Klaviertrios Nr. 2 e-Moll von Dmitri Schostakowitsch. Die sehr hohen Flageoletttöne des Cellos verströmen eine sonderbar sphärische Stimmung; mit sordinierter Violine setzt Benjamin Marquis Gilmore in deutlich tieferem Register ein, während Pianist Alexej Grynyuk eine solide Basslinie beisteuert. Das entspricht nicht einer eigentlich üblichen instrumentalen Stimmverteilung, vermittelt aber gewissermaßen das Abbild einer Zeit, in der so vieles wie auf den Kopf gestellt zu sein scheint. Ein Aufbegehren folgt prompt, dissonant, grob, aufwühlend und energisch bis brutal vorgetragen in stachelig harter Konturierung. Das wie entfesselt dargebotene Scherzo mutet in seiner grotesk übersteigerten folkloristischen Note an wie ein entfesselter Tornado, der urplötzlich abbricht. Besser gesagt: einmündet in einzelne hymnische Mollakkorde des Klaviers, zu denen die Geige ein überaus ergreifendes funebres Lamento anstimmt, nur unterbrochen von Fortissimo-Verzweiflungsrufen einer gequälten Kreatur. Die ungeheure Tragik, die das Leben des Komponisten über viele Jahre bestimmt hat, lässt sich in der tiefschürfenden, zugleich technisch brillanten Interpretation eindrucksvoll nacherleben.
Als typisch Schostakowitsch lässt sich der Finalsatz beschreiben: als Persiflage, als groteske Überzeichnung einer ausgelassenen Volksfestivität, das in seiner oberflächlichen Heiterkeit immer wilder, turbulenter auszuarten scheint bis hin zur Erschöpfung. Und schließlich, nach einem vergeblichen Neustart bei tackerndem Metrum in immer schwächer werden Flageoletts und sanften Klavierakkorden erstirbt. Erst nach längerem ergriffenem Schweigen setzt der Beifall ein.

Olivier Messiaens anno 1941 im Straflager nahe Görlitz entstandenes und dort auch uraufgeführtes „Quatuor pour la fin du Temps“ intensiviert die fesselnde Atmosphäre der ersten Konzerthälfte. Die achtsätzige Komposition, die sich auf einen Text aus der biblischen Offenbarung des Johannes bezieht, ist durchdrungen von apokalyptischen Schreckensszenarien, bietet aber zugleich einen Ausblick auf himmlische Ewigkeitssphären. Flirrende mosaikartige Klangfetzen und muntere Vogelstimmen verbreiten eingangs eine Art Waldstimmung. Der Engel, der im 2.Satz das Ende der Zeit ankündigt, erweist sich keineswegs als puttenhaft süß, sondern ist machtvoll und erhaben; dazwischen kontrastieren sanfte Klavierkaskaden als überirdisch glänzende Harmonien. Die sehr  differenzierte Gestaltung seitens des jetzt durch den Klarinettisten Matthew Hunt vervollständigten Quartett-Ensembles verdeutlicht die fantastische Szenerie in eindrucksvollen Klangfarben. Was Hunt dann bei „Abîme des oiseaux“ („Abgrund der Vögel“) solistisch bietet, ist wahrhaft phänomenal und hoch spannend. Nicht nur, dass er munteres Tirilieren und jubilierendes Trällern authentisch nachahmt; faszinierender noch sind seine langen, wie aus dem Nichts entstehenden, in völlig stufenloser an- und wieder abschwellender Dynamik unendlich lang anhaltenden, schließlich wieder im Nichts verhauchenden Töne, die er perfekt zelebrierend bläst: Eine grandiose Lehrstunde in Sachen Klarinettenspiel!
Vergleichbares bringt Elschenbroich mit dem von tiefer Ruhe geprägten 5.Satz „Louanges à l’Éternitè de Jésus“ („Lob auf die Ewigkeit Jesu“): Untermalt von den glockenläutenden Harmonien des Klaviers, lässt er die Melodie der Cellos in feinem, ergreifend innig gestrichenem Legato wie ewig, ohne definierbares Endziel dahingleiten in subtil angedeuteter Phrasierung, geradeso als handele es sich um einen immer weiter fortgeführten Satz mit diversen Kommata und Semikolons, aber ohne abschließenden Punkt. So geht Klang gewordene Ewigkeit. Doch die wird heftig unterbrochen durch die unisono präzise von allen vier Instrumenten geschmetterten „Trompeten“ im „Danse de la fureur pour le sept trompettes“ („Tanz der Raserei für die sieben Trompeten“), die in diffizilen Metren und furchterregend fetzigem Fortissimo apokalyptische Katastrophen ankündigen.
Irisierende, synästhetisch erahnbare Regenbogenfarben und ein kakophonisch wildes, fegefeuriges Tohuwabohu lässt das engagiert aufspielende Quartett erstehen im 7. Satz „Fouillis d’arcs-en-ciel, pour l’Ange qui annonce la fin du Temps“ („Gewirr von Regenbögen, für den Engel, der das Ende der Zeit kündet“). Wie weltentrückt singt hingegen im finalen Satz „Louange à l’Immortalité de Jésus“ („Lobpreisung der Unsterblichkeit Jesu“) die Geige zu zartem pianistischem Geläut in traumhaft mystischen Harmonien, die sich höher und höher aufschwingen hin in himmlische Paradiessphären, bis sie in der Unendlichkeit zu entschwinden scheinen.
Und wieder herrscht zutiefst ergriffene Stille, deutlich länger noch als in der ersten Konzerthälfte, bevor dann doch noch begeisterter Beifall einsetzt. Es braucht eben seine Zeit, um nach diesem zweifellos stark unter die Haut gehenden Musikerlebnis wieder zurückzufinden in die abendliche Realität. Nicht anders ist es auch den mehr als 5000 Lagerinsassen bei der Uraufführung ergangen angesichts dieser eigentlich ungemein schweren und tiefsinnigen, aber dennoch in seiner Ausdrucksintensität sich direkt mitteilenden Komposition. Es versteht sich von selbst, dass die vier frenetisch gefeierten Kammermusiker auf eine Zugabe verzichten, um den nachhaltigen Eindruck dieses Konzertabends nicht zu verwässern.