1. Philharmonisches Kammerkonzert am 13.Januar 2024 im Kleinen Saal der Glocke

von Gerd Klingeberg

Vielfach preisgekrönte Ensembles sind bei den Philharmonischen Kammerkonzerten im Kleinen Saal der Glocke keineswegs ungewöhnlich. Und dass das in Berlin beheimatete „Vision String Quartet“ sein Programm stehend absolviert (der Cellist darf selbstverständlich sitzenbleiben), mag ebenfalls nicht überraschen. Wohl aber, dass das Ensemble sein komplettes Konzert auswendig spielt. Ein Werk derart verinnerlicht zu haben, dass nicht mehr auf den Notentext geachtet werden muss, bewirkt in der Regel zugleich eine Steigerung der Ausdrucksintensität.
Dergleichen ist, wenngleich zunächst eher unterschwellig, bereits beim eingangs vorgetragenen „Prélude für Streichquartett“ von Ernest Bloch zu spüren. Liedhaft und in sanft aquarellösen, mitunter zart glitzernden Klangfarben verbreitet das kurze Werk eine expressive Stimmung, so als blicke man über eine schier endlose Weite. Die erst vor knapp 100 Jahren entstandene Komposition wirkt zeitlos: Für Bloch war Musik immer ein direkter Ausdruck der Seele und des Gefühls.
Doch es bleibt nicht bei solch einschmeichelndem Schönklang. Das folgende Streichquartett Nr.2 c-Moll op. 51/1 von Johannes Brahms weist reichlich dramatische Aspekte auf, mutet teils sperrig an und ist durchdrungen von immenser Spannung, die sich unmittelbar auf die Zuhörenden überträgt. Genüssliches Zurücklehnen ist dabei schlichtweg unmöglich. Die Ausführung gerät durchweg lebhaft und ohne Durchhänger. Intonation und Abstimmung der sehr komplex durchkomponierten vier Stimmlinien erfolgen in Perfektion. Da spürt man, dass das Ensemble u.a. beim Artemis-Quartett in die Lehre gegangen ist.
Im melancholisch eingefärbten 2.Satz, einer Romanze, sind langbogig fließende, angenehm weiche und wie in sich ruhende Klangflächen vorherrschend. Das bietet Muße zum Träumen, zum Sinnieren. Allmähliches Erwachen ermöglicht der moderat angegangene Folgesatz, dessen volksliedhafte Einschübe gemütvolle Atmosphäre vermittelt. Doch dann, als wäre ein Schalter umgelegt, kippt die zuvor noch serenadenhafte Stimmung, wird zum aufgebrachten Debattieren der Instrumente, zum spannungsvollen Mix aus scharfem Disput und zwischenzeitlichem Konsens bis hin zum kurzen, wie erschöpft wirkenden Innehalten, um schließlich in ein straffem Tempo bei kaum noch steigerbarem Fortissimo fulminant zu enden.
Auch nach der Pause überzeugen die vier Streicher mit wohl durchdachten und ambitioniert dargebotenen Interpretationen. Das Streichquartett Nr.2 a-Moll op. 13 , das Felix Mendelssohn Bartholdy als 18-Jähriger komponierte, überrascht mit einer berührend klangvollen Adagio-Einleitung. Erst nach und nach wird es energischer. Stimmige Akzentuierungen und ausgeprägte dynamische Entwicklungen sorgen für ein packendes Hörerlebnis. Dass Mendelssohn sich in diesem Werk mit dem jüngst verstorbenen Beethoven auseinandersetzt, wird in einigen Zitaten deutlich, ohne dass die Eigenständigkeit des noch jungen Mendelssohn dadurch in den Hintergrund geraten würde. Intime Klangwelten eröffnet der empfindsame dargebotene, zum Heulen schöne kantable 2. Satz Adagio, ein tiefinniges Lied ohne Worte. Tänzerisch Verspieltes, quecksilbrig sprühende leise Töne und kobolthaftes Huschen erinnern nachfolgend an ähnliche Passagen aus dem „Sommernachtstraum“. Doch dann tosendes Ungewittern, schroffe Akkorde in irritierender Reibung, in hartem, ungebärdigem Presto ausgeführt, ein wildes Wechselbad der Gefühle von jugendlichem Sturm und Drang. Es endet nicht mit einem dramatischen Paukenschlag, sondern kehrt wie ermattet zurück zu den gemütvollen Harmonien des Anfangs. So werden die beiden nahezu nahtlos aneinandergereihten Schlusssätze zum grandiosen Höhepunkt eines packenden Konzertabends. Erst nach einem Moment ergriffener Stille  brandet tosender Beifall auf.
Mit seinem wahrhaft beeindruckenden Auftritt hat das Ensemble unzweifelhaft seine spieltechnischen und interpretatorischen Kompetenzen für das Genre des klassischen Streichquartett bewiesen. Doch die vier Herren sehen den gewählten Namen ihres Ensembles offenbar visionär und programmatisch; denn sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, das Spektrum dieser Gattung auch außerhalb gewohnter Klassikbahnen zu erweitern. Und sie liefern gleich zwei eigenkompositorische Beispiele als Zugabe: „Hailstones“ bewegt sich mit scharf konturierter Rhythmik irgendwo zwischen Jazz, Country, Pop; bei „Samba“ nutzen die Musiker ihre Instrumente in Gitarrenmanier für südamerikanisch anmutende Rhythmen, bei denen sie zur Freude des Publikums auch gleich noch einiges an Showtalent beweisen. Derart  locker und mitreißend kann Streichquartett eben auch sein. Und damit gewiss auch interessant für jene, die mit Klassik bislang wenig oder gar nichts anzufangen wissen.