Kritik: 2. Philharmonisches Kammerkonzert
Zum 2. Philharmonischen Kammerkonzert am 5. Oktober 2023 im Kleinen Glockensaal
Schräg, schmissig und schwungvoll ging es los beim 2. Philharmonischen Kammerkonzert im Kleinen Glockensaal. „Opium – Licht und Schatten der Zwanziger Jahre“ war angekündigt. Aber das, was eingangs zu hören und laut Programm als Berceuse zu erwarten war, dürfte auch vor rund einhundert Jahren kaum dem Charakter eines Wiegenliedes entsprochen haben. Eine völlig richtige Einschätzung; denn spätestens mit den ersten nicht zu überhörenden Melodienabschnitten, die eindeutig aus George Gershwins „Ein Amerikaner in Paris“ stammten, war klar, dass es wohl eine kleine Umstellung im Programmablauf gegeben hatte. Doch so war es genau der richtige, optimal passende Einstieg in die Musik der „Roaring Twenties“, die vom Cellisten Eckart Runge und seinem pianistischen Duopartner Jaques Ammon im Konzert präsentiert wurde. Die Thematik mochte für einen Kammermusikabend etwas irritierend erscheinen, aber diese musikalische Sparte ist halt ein überaus weites Feld. Dabei steht außer Frage, dass die beiden ausführenden Musiker als anerkannte, hochrangige kammermusikalische Experten gelten, mit dementsprechender spieltechnischer Qualität und profunder Interpretationskompetenz. Runge erwies sich zudem als kenntnisreicher, locker plaudernder Moderator, der zu jedem einzelnen Werk fachkundige Hintergrundinformationen parat hatte. Nach dem überraschend vorgezogenen Gershwin-Titel kündigte er die anfangs vermisste Berceuse an, komponiert von einer gewissen Germaine Taillefaire, einer herausragenden französischen Komponistin des 20. Jahrhunderts, die heutzutage zu Unrecht leider (noch) weitgehend vergessen ist. Die innige Melodik des Wiegenliedes brachte Runge mit ungemein einfühlsamem Strich auf dem Cello zu Gehör, während Ammon mit zartem Tastenanschlag begleitete. Wunderschön zum zumindest kurzzeitigen Abtauchen und Träumen! Doch Konzerte leben zumeist von Kontrasten. Kurt Weills folgende „Moritat von Mackie Messer“, grandios arrangiert, geriet anfangs geradezu schlicht, dann rasant vorantreibend oder salonesk melodiös umspielt, einschmeichelnd luftig oder scharf gezupft und gestrichen, mit immer neuen Überraschungen – bei selbstverständlich durchweg exzellenter Abstimmung beider Instrumente. Ernest Blochs 1925 entstandene Komposition „From Jewish Life“ berührte dagegen mit ruhig melancholischen, teils bis ins Elegische gesteigerten Klängen, die das Duo mit derart viel Sensibilität und Herzblut darbot, dass die Intensität der Musik bereits das drohende Unheil des späteren Holocausts erahnen ließ. Andere Facetten der Musikepoche des letzten Jahrhunderts vermittelte Claude Debussys Sonate für Violoncello und Klavier, eines der letzten Werke des Komponisten, das neben ebenfalls melancholisch düsteren Partien in der Sérénade auch scharf kontrastierende, sehr bildhafte Elemente beinhaltet. Runge und Ammon gestalteten sie mit gehörigem spielerischem Elan, subtilem Witz und geradezu ironischer Ausführung wie eine humorvolle Episode und loteten dabei die vielfältigen Möglichkeiten ihrer Instrumente in höchstem Maße gekonnt aus. Das galt auch für zwei Lieder des vor allem in den U.S.A. für seine Filmmusik berühmten Erich Wolfgang Korngold: „Schneeglöckchen“ mit spätromantischer Schlichtheit und Eindringlichkeit, „Versuchung“ dagegen als noch tonalen Regeln folgend, aber bereits mit deutlichen Annäherungen an neue klangliche Dimensionen. Etwas weiter hatte sich Paul Hindemith bereits von der Romantik entfernt. Sein Capriccio op.8 gefiel mit quirlig heiteren, eben kapriziös schnellen Tonfolgen, munter wie ein gutlaunig gepfiffenes Liedchen, knackig kurz, aber mit donnerndem Schlussakkord. Das eher bedrückend anmutende Gegenstück folgte mit Gustav Mahlers Liedkomposition „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ (aus den Rückert-Liedern). Wunderschön gespielt, mit unter die Haut gehender Intensität, vor allem dann, wenn man den zugrunde gelegten Liedtext mitdachte bei dieser klangzarten Erinnerung an blaue Stunden im sanft goldenen Abendschimmer, diesem Eintauchen in andere Sphären, bis alles in einem kaum noch gehauchten Pianissimo erstarb. Ergriffene Stille nach diesem bewegenden Vortrag, bevor der Beifall einsetzte.
Aber das sollte noch nicht das Ende sein. Mit Maurice Ravels musikalischen Versionen einer Habanera und eines Blues (Mittelsatz aus Ravels Violinsonate) sowie brillant arrangierten Ausschnitten aus „Berlin Babylon“ (Tom Tykwer/Johnny Klimek) zeigten Runge und Ammon ausgeprägte Qualitäten als Jazzmusiker. Da berauschte der Rhythmus mit der Unerbittlichkeit verströmender Zeit, da kamen Turbulenz und Ausgelassenheit der „Roaring Twenties“ in packendem Swing bei Runges glissandierend angeschmierten Cellotönen und Ammons rasanten Tastenaktionen in mitreißender Weise zum Ausdruck. Schließlich ein absoluter Klassiker der Filmmusik: der bekannte Tango „Jalousie“, der in mehr als 100 Filmen verwendet wurde, aber nicht etwa aus Argentinien stammt, sondern vom dänischen Violinisten und Komponisten Jacob Gade geschrieben wurde. Die zackig temperamentvolle, dabei ebenso auf scharfe Rhythmik wie auch auf schmachtende, feurig leidenschaftliche Tango-Erotik setzende Ausführung des Duos beim kunstvollen Eigenarrangement hätte allein schon den Besuch dieses doch recht ungewöhnlichen, aber überaus abwechslungsreichen Kammerkonzertabends gelohnt. Mit einer jazzig-fetzigen Burleske des ukrainisch-russisch-jüdischen Komponisten Nikolai Kapustin als Zugabe bedankten sich Runge und Ammon für den frenetischen Beifall des hingerissenen Publikums. Dass die üblichen Meisterwerke klassischer Kammermusik durch ein derartiges Programm keineswegs überflüssig geworden sind, dürfte unbestritten sein. Aber der Mut, sich im Kontext der Reihe der Philharmonischen Kammerkonzerte einmal auf ein derartiges, gewiss unerwartetes Terrain zu begeben, hat sich zweifellos gelohnt.
Gerd Klingeberg