- Philharmonisches Kammerkonzert der 200. Spielzeit
am Donnerstag, 5.Dezember 2024 im Kleinen Saal der Glocke
Markante, energisch ausgeführte Eingangsakkorde sind nichts Ungewöhnliches bei einem Streichquartett. Wenn besagtes Werk indes von Hermann Grädener, einem weitestgehend unbekannten Komponisten und Brahms-Freund stammt und erst jetzt, volle 126 Jahre nach seiner Entstehung, erstmalig in Bremen aufgeführt wird, dann ist die Aufmerksamkeit der Zuhörer gewiss groß, welche musikalischen Qualitäten sich wohl in diesem Streichquartett Nr.1 d-Moll op.33 entdecken lassen. Und dergleichen gab es reichlich bereits im Kopfsatz mit seinen teils wilden, aufbegehrend unruhigen Passagen, die sich, von einigen ruhigen Einsprengseln unterbrochen, zu einem aufgeregten Miteinander der Instrumentalstimmen entwickelten. Mit Emphase gingen die Ausführenden – Ilya Gringolts (Violine1, Franziska Hölscher (Violine 2), Gregor Sigl (Viola) und Clemens Hagen (Violoncello) – ans Werk, um das vorgegebene „con brio“ angemessen umzusetzen. Das folgende Adagio, zu spielen „im Balladenton“, gefiel mit ausdrucksstark breiten Legatos. Überzeugender noch geriet das joviale, luftig locker und in ausgeprägter Rhythmik präsentierte Scherzo: ein echtes Gute-Laune-Stück – jedenfalls bis zur ersten Generalpause, die ein überaus stimmungsvolles, fast schon hymnisch getragenes Trio einleitete. Nach einer weiteren, bewusst etwas gedehnten Generalpause ging es zurück zur heiteren Note und einer straffen Coda. Zum Rondo-Finale drehte das Ensemble noch einmal gehörig auf, entwickelte mit nonchalant elastischer Spielweise bei vielfach variiertem Tempo und großer dynamischer Bandbreite geradezu swing-ähnliche Klänge, die in einem grandiosen Schlusspart ihren Höhepunkt fanden. Ein rundum gelungener Vortrag eines Werkes, das bislang, zweifellos zu Unrecht, in der Versenkung verschwunden war, in dessen romantischer Tonsprache man sich jedoch, ungeachtet so mancher überraschenden Wendung, auch schon beim ersten Hören problemlos zurechtfinden konnte.
Um einiges anspruchsvoller noch ist das 1882 entstandene Streichquintett F-Dur op.88 von Johannes Brahms. Es erfordert eine besonders transparente Ausführung, um beim Zuhören die oftmals komplex ineinander verschachtelten Stimmführungen nachvollziehen zu können. Für das Ensemble – jetzt verstärkt durch die Bratschistin Lily Francis, dazu Julia Hagen (Violoncello) anstelle ihres Vaters Clemens – war dergleichen eine Selbstverständlichkeit. Gemütvoll erklangen die ersten Takte in zunächst ungetrübtem Wohlklang, wie ein angenehmes Spiegelbild Brahms‘scher Sommerfrische im beschaulichen Bad Ischl, wenngleich ein dezenter Hauch von Melancholie immer mitzuschwingen schien. Mit bestechender Intensität überzeugte der Mittelsatz: Das in kompakter Dichte vorgetragene Grave wird plötzlich von einem glitzernd zart leuchtenden Allegretto unterbrochen, kehrt kurz zurück zu verschattet dunklen Harmonien, die erneut von einem flirrend hastenden Presto konterkariert werden, um schließlich in hauchfeinem Pianissimo im Nichts zu entschwinden. Ein wahrhaft grandioser kompositorischer Einfall, den die Streicher bravourös zu intonieren wussten. Und höchste Perfektion bewiesen sie auch im forsch angegangenen, dennoch durchweg sorgfältig phrasierten Schlusssatz, einem feurigen Presto voller Energie und Lebensfreude.
Von gänzlich anderer, zunächst ausgesprochen düsterer, fast schon mystischer Stimmung geprägt war Arnold Schönbergs Streichsextett op.4 „Verklärte Nacht“. Es beruht auf einem schwülstig-romantischen Gedicht Richard Dehmels: Eine von Schuldgefühlen geplagte Frau teilt ihrem Mann mit, dass sie ein Kind von einem anderen erwartet. Die Reaktion ist anders als vermutet: Der Mann ist bereit, das Kind und weiterhin auch seine Frau in großer Liebe anzunehmen. Der Gedichttext war leider nicht im Programm aufgeführt, er hätte das Verständnis der Musik erleichtert. Es ist jedoch bekannt, dass der Dichter Dehmel nach dem erstmaligen Hören der von ihm inspirierten Musik an Schönberg schrieb: „Ich hatte mir vorgenommen, die Motive meines Textes in Ihrer Komposition zu verfolgen; aber ich vergaß das bald, so wurde ich von der Komposition bezaubert.“ Eine wahrhaft großartige Wirkung dieser programmatischen Komposition, die auch beim Kammerkonzert zu erleben war. Wie bei einer Filmmusik ließen die gleichermaßen effektvoll wie nuanciert ausgeführten Stimmungswechsel plastische Szenerien vor dem geistigen Auge entstehen. Die verzweifelten Ausrufe der Frau, der über die Maßen erregte Disput des Paares, das heftige Wechselbad überbordender Gefühle, aber auch die letztlich uneingeschränkte gegenseitige Zuneigung wurden in grandiosen, mal ölfarben dichten, mal zart durchscheinenden Klangbildern in traumhafter Intensität eindrucksvoll nacherlebbar dargeboten. Vor allem der als „Sehr ruhig“ angegebene Finalsatz ging mit seinem überirdisch schönen, moriend verhauchenden Schlusspart tief unter die Haut. Augenblicke tief ergriffener Stille folgten, dann setzte lang anhaltender, sehr herzlicher und in jeder Hinsicht verdienter Beifall ein.
von Gerd Klingeberg